
„Nicht so, Engelchen.“, hörte sie ihre Großmutter geduldig sagen. „Der Teig lebt. Wenn du zu grob bist gelingt er dir nicht und es wird nicht funktionieren.“
Von klein an, stand sie mit ihr in der Küche und lernte das Backen. Hier ging es nicht um die Fingerfertigkeit der Konditorei. Hier ging es um etwas Größeres, um unsere Gabe. Etwas dass weitaus über jenes hinausging, was man als Empathie bezeichnen kann.
“Du musst lernen, die Gabe richtig einzusetzen.“ , ermahnte sie Großmutter abermals.
Sie bohrte ihre Hände in den Teig, ließ die Masse zwischen den Fingern herausquellen … Und endlich kam der Moment! Eine heraufziehende Wärme. Gleich einer Sonne, die im Zeitraffer aufging und mit ihren Sonnenstrahlen flutete. Dann war es vollbracht. Die aufziehende Woge verflog ebenso schnell, wie sie zuvor aufkam. Großmutter öffnete die Augen und lächelte ihrer Enkelin gütig zu.
„Probier, mal.“, bat sie und beobachtete das Kind eingehend. Langsam fischte sie mit dem Finger ein bisschen Teig heraus und kostete davon. Gewürze explodierten in einem Kaleidoskop aus Süße und Himbeeren in den Geschmacksknospen. Doch darauf hatte sie nicht gewartet. Der eigentliche Effekt setzte erst später ein. Zuerst war es nur Neugier, dann änderte es sich. Ein Rumoren, das mit jedem Herzschlag weiter anschwoll. Bilder erschienen in ihrem Verstand. Bilder als sie klein war, ein Mädchen von fünf Jahren war und mit Großvater spazieren ging. Der Wind spielte an ihrer üppigen Mähne und die Sonne brachte das Rot der Haare zum Aufleuchten. Der Geruch von Blumen erfüllte die Luft und lange Gräser am Wegesrand kitzelten die ausgestreckten Arme. Er hatte ihr immer die Welt erklärt. Jeder Spaziergang war ein riesiges Abenteuer in ein neues Reich voller Geheimnisse. Egal ob es darum ging, wie Honig entstand während sie einen Imker besuchten oder auf einem Steg saßen und die Fische zu beobachteten, die sie mit Futter angelockt hatten. Dann verfinsterten sich die Gedanken. Von einem Augenblick auf den Nächsten stand sie am Grab ihres Großvaters. Trauer erfüllte sie. Eine Trauer, die sie Schmerzen erleiden ließ. Wasser stieg ihr in die Augen, während sie in die große Leere stürzte, die er mit seinem Tod hinterlassen hatte.
Ein Fingerhut des Teiges genügte, um in ihr ein Feuerwerk der Gefühle zu entfachen. All dies war so real, als würde sie selbst noch am Grab stehen, obwohl die Beerdigung über zwanzig Jahre zurücklag.
Es war die Gabe, die es ihrer Großmutter erlaubte, ihre Gefühle und Emotionen in den Teig einfließen zu lassen. Sie konnte nicht steuern, welche Empfindung sich in dem Gebäck entlud. Dafür war die Gabe ebenso wenig zu kontrollieren wie das Unterbewusstsein.
Heute, mit fündundzwanzig und fast elf Jahre nach dem Erlebnis in der Küche, stand sie an der Arbeitsfläche in ihrem eigenen Café und bereitete eine weitere Riege Muffins für die Party einer Freundin vor. Als Großmutter starb, war sie allein und schien gestrandet. Es dauerte seine Zeit, bis sie beschloss, ihre Gabe mit der Welt zu teilen. Niemand ahnte etwas von ihrer geheimen Kraft. Aber jeder liebte ihre Kreationen. Sie wollte ihren Gästen nahe sein, wollte wissen, was in ihnen vorging und ihnen unter die Arme greifen. Ein Pärchen, das sich verliebt in die Augen sah und heftig miteinander turtelte, bekam ein paar Cupcakes der Kategorie, „SEX JETZT.“
Mit dem Ergebnis, dass die Gästetoilette für fast eine Stunde blockiert war. Nachdem sie mitbekommen hatte, wie sich zwei Frauen darüber unterhielten, dass die eine von ihnen von ihrem Mann betrogen wurde, bekam sie Cookies mit einer gehörigen Portion, „ZOFF.“. Die heraufziehende Zornesröte legte ein nur zu deutliches Zeugnis ab, was ihrem Ehemann als Nächstes blühen würde.
Mit einem Schock realisierte sie, wie spät es mittlerweile war. Eilig wanderten die letzten Stücke in das Partybouquet. Bewaffnet mit ihrem Gebäck verließ sie den Laden. Die Clique traf sich wie jede Woche. Geplant war ein gemütlicher Mädelsabend mit neuestem Tratsch, Serien Bingen, Sekt und allerhand Naschereien. Polternd betätigte sie mit ihren Stiefeln, die Kontaktplatte der Rolltreppe und ließ die Vorrichtung surrend aufleben. Aber vor ihrem nächsten Schritt hielt sie inne. Sie rief sich die Eskalationen, der letzten Abende in Erinnerung. Sie alle endeten immer entweder in Clubs oder Bars. Vorsichtshalber beschloss sie, vorher nur kurz ihren Bargeldbestand aufzustocken und machte auf dem Absatz kehrt.
Zwei Straßen weiter las sie verstimmt das Schild, das vor dem Geldautomaten prangte.
„Außer Betrieb!“
Sie seufzte genervt, fügte sich aber ihrem Schicksal und betrat die Bank. Wie erwartet hatten sich an den beiden Automaten im Inneren kleine Schlangen gebildet. Wie ein braves Mädchen stellte sie sich an und wartete, bis sie an der Reihe war. Nach einer gewissen Zeit kam auf einmal Tumult hinter ihr auf und als sie sich umdrehte, setzte ihr Herz für einige Schläge aus. Vier Männer hatten die Bank betreten. Allesamt trugen sie schwarze Masken und Gewehre, wie man sie aus Actionfilmen kannte. Der breiteste von ihnen nickte einmal den anderen zu, woraufhin sie sich alle aufteilten. Der Anführer hob die Waffe gegen die Decke des Gebäudes und gab einen kurzen Feuerstoß ab. Chaos brach aus. Schreie erklangen und stimmten einen Kanon aus Befehlen und Hysterie an. Während der Anführer die Anwesenden im Wartebereich zusammentrieb, warf der breitschultrige Mann ihnen einen Beutel vor die Füße.
„Chandys, da rein und da chinstellen“, bellte er in schwerem russischen Akzent. Doch als die Zusammengetriebenen zu langsam reagierten, trieb er den Gewehrholm seiner Waffe mit brutaler Wucht in das Gesicht eines Mannes. Das Jochbein gab mit einem unappetitlichen Knirschen nach und ließ ihn keuchend wie einen nassen Sack zusammenklappen. Einen Augenblick betrachtete der Bankräuber den Bewusstlosen auf dem Boden, bevor er sich wieder der Gruppe zuwandte.
„Ich sagen niacht nochmal.“, wiederholte er gefährlich knurrend und richtete den Lauf der Waffe auf das Ensemble der Kunden. Angefeuert durch die Darbietung kramten alle erheblich hastiger ihre Telefone heraus und warfen sie in den Beutel.
„Gehen alle da rein. Langsam. Zusammen. Niacht laufen. Iach und Genosse AK mögen das niacht so.“, erklärte er überspielt freundlich und streichelte zeitgleich über das Gewehr. Darauf bedacht, keine Hektik aufkommen zu lassen, bewegte sich die Gruppe im Gänsemarsch den Anweisungen entsprechend an eine Wand, an der man schon die anderen Kunden und Angestellten zusammengetrieben hatte. Einer der Mitarbeiter kauerte auf dem Boden. Die rechte Seite seines Kiefers war geschwollen und verfärbte sich allmählich.
„Er wollte Cheald spielen.“, erklärte sich ein großer hagerer Mann, als er vom Anführer fragend angestarrt wurde. Der Gangchef beugte sich zu dem Kauernden am Boden nieder und packte diesen am Kragen. Wie eine Puppe hievte er ihn auf die Beine und zerrte sein Opfer an eine Stelle, die für alle sichtbar war.
„Iach liebe Chealdengeschiachten.“, begann er laut. „Batman, Spiderman. Aber besonders mag iach griechische Geschiachten. König Leoniadas und die Dreichundert, oder Achillies und Herkules. Weißt du warum?“, senkte er gefährlich lauernd die Stimme. „Sie enden alle tragisch mit dem Tod des Chealden. Also bist du sicher, du wirklich willst Cheald sein?“, machte er eine kleine Pause, bevor er fortfuhr. „Nein? Dachte iach mir.“
„Giabt es chier noch einen Chealden?!“, richtete er sich mit donnernder Stimme dieses Mal an alle, aber die Antwort blieb erneut aus. „Wir wollen euch niacht wehtun. Wir nehmen Geld und wir wieder weg. Wenn niemand uns stören, passieren keinem was.“
Das anhaltende Schweigen, genügte dem Mann als einlenkendes Signal. Während der Anführer mit zwei großen Taschen die Gruppe verließ, positionierte sich der Hagere als Spähposten am Eingang. Unterdessen tasteten und durchsuchten die verbliebenen beiden die Geiseln.
Dies war jener Moment, an dem sie die Muffins fanden. Sie öffneten die Schüssel und rochen kurz daran. Sie schienen abzuwägen, ob sie sich bedienen sollten. Die Konditorin verbuchte es trotz der Situation als Erfolg, nachdem sie beherzt zugriffen. Aus dieser Distanz war sie zwar nicht in der Lage zu erkennen, welches der Gebäckstücke sie sich angelten. Doch wenigstens war keines mit der Zugabe Zorn eingepackt.
„Iach nehme auch eins.“, meldete sich der Hagere am Eingang und empfing das Gebäck via Luftpost.
„Ist der nicht Mega, Alter?”, entfuhr es dem vierten der Ganoven akzentfrei und erntete ein euphorisches Nicken.
„Iach muss jetzt zu Boss.“, begann der Breitschultrige zuerst deutsch und sprach dann auf russisch weiter, bevor er dem Anführer hinterher eilte.
Schlendernd schritt der Akzentfreie an allen Gefangenen vorbei und musterte jeden Einzelnen vom Scheitel bis zur Sohle. Er blieb bei einer Angestellten stehen, die durchaus dem Aussehen einer Barbie gleichkam. Er betrachtete sie eingehend. Als das Püppchen bemerkte, dass sie angestarrt wurde, sah sie hoch.
„Irre bist du hübsch.“, entfuhr es ihm, hielt aber augenblicklich wieder inne. Einen Moment lang starrte sie ihn nur verwirrt an, entschied sich allerdings, lieber zu schweigen und senkte stattdessen ihren Blick. Ihm war deutlich anzusehen, wie er sich selbst über das wunderte, was er eben von sich gegeben hatte. Allmählich begriff die Konditorin, welch einen Muffin sich der Bankräuber da ausgesucht hatte und konnte sich trotz ihrer Lage ein Schmunzeln nur schwer verkneifen. Ihr Blick schweifte zu dem Hageren, doch nichts verriet ihr, was für ein Gebäck dieser ergattert hatte. Der Akzentfreie stand nach wie vor bei der Angestellten und starrte sie an.
„Es tut mir leid, wenn ich dir Angst mache.“, entschuldigte er sich plötzlich bei ihr. Als sie ungläubig über das eben gehörte wieder aufsah, legte sich ein aufrichtiges Lächeln auf seine Lippen. „Weisst du, eigentlich tue ich sowas wie hier nicht so oft.“, offenbarte er der Blondine vor sich.
„OoooKaaay?“, antwortete sie nur zögerlich.
„Ich, also… Also ich.“, stotterte er herum, bevor er sich die Maske vom Kopf zog. „So ein doofes Ding.“, kommentierte er kopfschüttelnd und legte sein durchaus gutaussehendes Gesicht frei. „Das hier ist doch eine ehrlich denkbar blöde Situation jemand kennen zu lernen, oder nicht?“
„Ich glaub auch.“, erwiderte sie nach wie vor zurückhaltend.
„Und doch sind wir hier. Entschuldige bitte, ich bin Anatoli.“
„Nadine, ich heiße Nadine.“
„Ist echt ein Hammer schöner Name.“
„Danke.“, lächelte sie gequält.
„Brauchst du etwas? Was zum Trinken oder vielleicht etwas Süßes?“, und hielt ihr den halben Muffin unter die Nase. „Das Teil ist echt lecker“, legte er nach, als sie nichts von sich gab.
Die Verwirrung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Dennoch lenkte sie ein, da sie den Bankräuber nicht unnötig provozieren wollte. „Ok, ein Stückchen vielleicht.“
Anatoli brach ein angemessenes Stück ab und übergab es mit einem aufrichtigen Lächeln.
Ein Schluchzen erklang und lenkte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden zu dem hageren Mann. Schniefend griff dieser in seine Tasche und fischte sein Telefon heraus. Er wählte eine Nummer und legte das Smartphone an sein Ohr.
„Mama? Mama bist du es?“, der Rest wurde von in einem Gemisch aus russisch und heulkrampfartigen Schluchzen verschluckt. Er kniete sich auf den Boden und verfiel in anhaltendes Weinen und schaffte es nur gelegentlich für ein simples, „Da, Mama.“, zu unterbrechen.
Plötzlich flog eine Tür auf und ließ den Breitschultrigen mitsamt dem Boss der Bankräuber im Schlepptau auf der Bildfläche erscheinen. „Nicolai! Was heißt, du rufst jetzt an?“, rief der Anführer seinem Vordermann zu.
Erst jetzt bemerkte er die absurde Szenerie, die sich ihm hier bot. Zuerst fiel sein Blick auf den schluchzenden Hageren, was ihm einen langgezogenen Fluch auf Russisch entlockte. Hilfesuchend starrte er zu Anatoli. Doch als er sah, wie der Mann in dem Chaos unbemerkt begonnen hatte, ungehemmt mit der Barbiekopie zu knutschen, entgleisten ihm seine Gesichtszüge endgültig. Mit mahlenden Wangenknochen eilte er zu dem Pärchen und riss sie auseinander.
„Hey Sergej, kann ich dir Nadine vorstellen?“
Ungläubig wechselte der Blick zwischen Anatoli und Nadine hin und her, bis er panisch zum Breitschultrigen sah. Wie angedroht hatte dieser sein Telefon gezückt.
„Neiiin, iach nicht seien betrunken. Iach doch sagen, will Banküberfall melden. Iach will mich stellen“. Sergej versuchte, der nahenden Katastrophe entgegenzuwirken, und eilte zu Nicolai, als dieser soeben seinen Namen und die Adresse der Bank durchgab.
Der Abend gipfelte mit dem Eintreffen der Polizei, die nur wenige Minuten später vor der Tür stand. Die Geiselnahme fand ein jähes Ende, nachdem Nicolai sämtlich Versuche von Sergej unterband, sich einen Weg mit einem menschlichen Schutzschild frei zu schießen. Die plötzliche Ansicht, seinem Leben künftig den richtigen Antrieb zu geben und dem bisherigen Weg den Rücken zu kehren, hatte dem Überfall einem harschen Ende bereitet. Jeder Einzelne der Ganoven landete mit angelegten Handschellen in den Streifenwagen. Selbst Anatoli. Daran änderten auch Nadines Proteste und Liebesschwüre nichts. Alle Angestellten und Kunden wurden anschließend befragt. Als die Beamten versuchten, den Ausführungen zu folgen entschieden sie sich lieber dafür, Nicolais Geständnis zu akzeptieren und entließen die Zeugen wieder. Mein Abend war zwar gelaufen. Wenn man aber die Tatsache besah, dass eine unscheinbare Konditorin mithilfe von Muffins einen Banküberfall vereitelte, war das Ganze doch erheblich unterhaltsamer als gedacht.