Familientherapie

Familie
Quietschend kam das Auto nur Zentimeter vor seinem Fahrrad zum Stehen und ließ sämtliche umstehenden Passanten zusammenfahren. Um Haaresbreite hätte ihn der schwere Geländewagen mit dem hysterisch herumwinkenden Mittvierziger am Steuer trotz Rot überfahren.
»Bist du stoned, du verblödeter Hippietrottel?«, wurde er von dem Fahrer aus dem offenen Fenster angebrüllt.
»Sie haben doch genau gesehen, dass sie Rot hatten.«, entgegnete er dem Choleriker mit einem durchdringenden Blick. Einen Moment lang geschah gar nichts. Unter seinem Ausdruck schmolz die Wut des Kerls wie eine Kugel Eis im Ofen.
»Ach halt doch die Fresse, du Aushilfsöko!«, winkte der Mann ab und rangierte sein Fahrzeug um ihn herum. Jesus grinste triumphierend und rückte mit dem Zeigefinger seine Brille zurecht. Er wusste, dass der Herr seine Ausraster bereits bereute und den gesamten Tag darüber sinnierte, möglicherweise doch eine Antiaggressionstherapie in Erwägung zu ziehen. Schon morgen würde er mit seiner Familie in die Berge fahren und ihr die Idee unterbreiten.
»Jeden Tag eine gute Tat.«, hakte er innerlich ab und sein Grinsen wurde breiter. Er schob sein Fahrrad die übrigen Meter an sein Ziel und schloss es an einer Laterne ab. Er erklomm die wenigen Stufen und betrat den Raum, der ihn wie schon die letzten Male den Rest des Tages gefangen halten würde. Zufrieden stellte er fest, dass die Caterer ihre Arbeit abgeschlossen hatten und eine große Auswahl an Köstlichkeiten aus aller Welt aufgetischt hatten. Seinen Gästen hatten einen erlesenen Geschmack und nach dem Desaster kürzlich lernte er dazu. Mit wenigen Handgriffen befreite er seine langen Haare aus der Umklammerung des Helmes und rückte seine Brille wieder zurecht. Die festen Schuhe mit den Rasten für die Fahrradpedale wichen einem Paar bequemer Sandalen und zusammen mit dem langen Leinengewand und dem sanften Lächeln auf seinen Lippen rundete es sein Outfit ab. Wie jedes Mal öffnete er noch einmal die Fenster und rückte den Stuhlkreis zurecht. Zufrieden lächelnd ließ er sich hinter dem Schreibtisch nieder und nahm einen tiefen Schluck Kaffee aus seinem Mehrwegbecher.
Nach einer Weile flog die Tür auf.
»Hallo Zeus.«, begrüßte er seinen ersten Gast. »Schön, dass du es einrichten konntest.«
»Schön, auch dich zu sehen.«, antwortete dieser gleichmütig und schob die Sonnenbrille vom Nasenrücken in die stylish frisierten, grauen Haare. »Diese Folterkammer hier hat ja nichts von seinem Charme verloren.«, kommentierte er nüchtern, während er beide Hände zurück in die Hosentaschen des weißen Leinenanzuges schob und sich umsah.
»Es tut seinen Zweck. Warum? Fehlt etwas?«
»Ein hellenistischer Tempelbau ist es ja nicht.«
»Ich versuche, es mir für das nächste Mal zu merken.«, nickte er und schenkte Zeus sein aufrichtigstes Lächeln, das er parat hatte.
»Im Ernst, Jesus. Die Dinger wurden immerhin einst für uns gebaut.«
»Genau, und als Dank habt ihr sie verkommen lassen.«
»Hey, die Menschen haben zuerst den Glauben an uns verloren.«
»Die Debatte hatten wir doch letztes Mal schon, Zeus.«, seufzte Jesus und stellte mit einem langsamen Kopfschütteln seinen Kaffeebecher beiseite.
»Warum so genervt? Das steht dir gar nicht. Aber nichts für ungut.«, winkte er charismatisch lächelnd ab. Nach einem kleinen Moment des Schweigens trat Zeus in den perfekt ausgerichteten Stuhlkreis und zog einen Stuhl heraus. Betont gemach ließ er sich nieder und überschlug seine Beine, während er lauernd sein Gegenüber beobachtete.
»Bedrückt dich etwas?«, erkundigte sich Jesus, dem die Provokation nicht verborgen geblieben war.
»Kommt die Furie auch?«, warf er scheinbar gleichgültig in den Raum. Aber Jesus hatte die Fassade durchschaut. Zeus lehnte zwar lässig mit hinter dem Kopf verschränkten Armen in seinem Stuhl. Doch der Slipper, mit dem er subtile Achter in die Luft zeichnete, entlarvte seine Nervosität.
»Wie schon das letzte Mal haben alle zugesagt. Da bildet Hera keine Ausnahme.«
»Hast du dir das gut überlegt?«
»In der Regel weiß ich genau, was ich tue.«
»Na dann brennt die Lunte bereits.«
»Schade, dass du das so siehst.«
»Ach komm schon.«, prustete er plötzlich los und ließ beide Hände klatschend auf die Oberschenkel herabfallen. »Du hast sie doch das letzte Mal selbst erlebt. Sie ist vollkommen ausgerastet!«
»Naja, nachdem du sie – wie oft? – Tausendfach betrogen hast?«, konterte Jesus abgeklärt mit ausgebreiteten Händen.
Die Tür öffnete sich und ließ Jesus im Stillen ein Stoßgebet an seinen Vater senden, ihn aus dieser Situation gerettet zu haben. Mit einem Schlag wurde es dunkler im Raum. Die Temperatur sackte ein paar Grad ab.
»Hallo Bruder.«, begrüßte Zeus den Neuankömmling, nachdem er sich ebenfalls der Tür zugewandt hatte.
»Zeus.«, erwiderte Hades mit einem langsamen Kopfnicken, ohne seinen Bruder aus den dunkel geschminkten Augen zu lassen. Seine langen Haare hingen ihm schwer ins Gesicht und erweckten den Anschein, mit dem Schwarz seines Mantels zu verschmelzen. Der weite Rock in derselben Farbe verschluckte vollkommen die Bewegungen seiner Beine, wodurch er eher zu schweben als zu schreiten schien. Das Einzige, was das Dunkel des Outfits aufsprengte, war die Vielzahl an glänzenden Nieten und Ketten, die sein Auftreten aber nur bedrohlicher wirken ließ. Langsamen Schrittes steuerte er direkt auf Jesus zu und blieb unmittelbar vor ihm stehen. Jesus selbst hatte sich erhoben und streckte ihm sanft lächelnd seine Hand entgegen. Einen Augenblick betrachtete Hades sie, entschloss sich dann aber dazu, Jesus stattdessen in die Arme zu schließen. »Schön, dich zu sehen, Jesus.«, flüsterte er ihm ins Ohr, bevor er ihn nach einer gewissen Zeit wieder losließ.
»Cooler Look«, witzelte Zeus. »Etwas düster, aber cool.«
Allerdings erntete er dafür einen mürrischen Blick, bevor sich Hades wortlos abwandte und sich in sein Handy vertieft in den Stuhlkreis setzte. Jesus sah fragend zu Zeus, bekam nicht mehr als ein Achselzucken zur Antwort. Erneut öffnete sich die Tür und Ares und Apollon traten ein. Während Apollons gesamtes Outfit vom Scheitel bis zur Sohle aufeinander abgestimmt war, wirkte der hünenhafte Ares eher praktisch veranlagt und schien von einem Wanderausflug zu kommen. Der violette Anzug des Sonnengottes saß perfekt und zusammen mit der schweren Halskette aus glänzendem Gold und den Diamantohrringen wirkte er wie ein eingebildeter Superstar aus der Sportszene.
»Hallo Vater.«, legte Apollon los, bevor er alle anwesenden mit seinem Megawattlächeln blendete. Er grüßte Jesus und wandte sich daraufhin zu Hades. Als Ares näher kam, ergriff dieser Zeus im Kriegergruß.
»Schön dich zu sehen P-p-p-p-papa.«, stotterte er los und bekam einen hochroten Kopf.
»Schon gut«, beruhigte ihn Zeus sofort. »Nicht aufregen. Du weißt, dass das nie gut ausgeht.« und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
»I-i-i-i-ich g-g-g-g-geeeeeh mir was zum Essen holen.«, seufzte Ares erleichtert, als hätte er soeben ein schweres Gewicht beiseite gehoben.
»Ist nicht besser geworden?«, erkundigte sich Jesus, als Ares sich ein Stück entfernt hatte.
»Das wird auch nichts mehr.«, gab Zeus kopfschüttelnd zu, während er seinem Sohn nachsah. »Der große Kriegsgott Ares. Ein ehrfurchtgebietender Anblick, unüberwindbar in jeder Schlacht und in der Lage, mit einem Fingerzeig ein ganzes Land dazu zu bringen, in den Krieg zu ziehen. Aber ein Trottel, der es nicht einmal schafft, zwei zusammenhängende Wörter von sich zu geben, ohne zu kollabieren.«
»So schlimm ist das jetzt doch nicht.«, versuchte Jesus den aufziehenden Frust von Zeus zu besänftigen.
»Nicht?«, wandte sich Zeus direkt ein. »Zusammen mit seinem Tourette ist er eine tickende Zeitbombe. Jedes Mal, wenn er mit dem Geholper anfängt, steht die Welt am Abgrund. Sieh doch mal, was auf der Welt los ist. Wir sind nur ein Gestotter davon entfernt, Putin in Europa einfallen zu lassen.«
»Warum versuchst du nicht mal, alles etwas lockerer zu sehen?«, erntete aber sogleich einen entgeisterten Blick und Zeus ließ die Augenbrauen in die Höhe fahren.
»Was? Du meinst Mr. Eloquenz höchst persönlich?«
»Nein Zeus, ich meine alles. Hera, Ares und was dir sonst noch so an deiner Familie gegen den Strich geht.«
»Dafür, mein Freund ist es definitiv zu spät. Findest du nicht? Wir kennen uns alle so lange, dass keiner mehr von uns nur einen Herzschlag mit den Marotten des anderen aushalten würde. Im Gegenzug wissen wir aber alle genau, welche Knöpfe wir zu drücken haben, um den anderen zur Eskalation zu bringen. Dein Optimismus in allen Ehren, Jesus, aber dieser Zug ist abgefahren, entgleist, von der Brücke gestürzt und endgültig im tiefen Fluss darunter versunken.«
Zeus klopfte Jesus grinsend auf die Schulter und begab sich dann selbst zum Büffet.
Wenn man den bislang nicht einmal begonnenen Abend als ein Fußballspiel ansah, fühlte sich Jesus, als hätte er vor Anpfiff das erste Tor kassiert. Eine Zeitlang beobachtete er die bisher Versammelten. Er nutzte die Gelegenheit und wandte sich an Apollon, als Ares versuchte, mit Hades ein Gespräch zu führen.
»Hättest du einen Augenblick?«
»Sicher.«, antwortete der Sonnengott und erhob sich.
»Wolltet ihr nicht zu dritt kommen?«
»Richtig.«, schien er sich plötzlich wieder zu erinnern. »Entschuldige bitte. War die letzte Zeit unglaublich busy. War solange mit dem Jet unterwegs, dass ich gar nicht mehr wusste, auf welchem Kontinent ich bin. Erst letztes Wochenende cruiste ich mit Beyonce, Madonna und Taylor Swift auf einer Jacht vor Monaco und habe die Kräfte meiner Musen mal ein bisschen wirken lassen. Weißt ja, die Karrieren der Mädels stagnieren momentan etwas. Ich hab ihnen im Übrigen von dir erzählt und Madonna würde sich gern mal mit dir treffen. Sie sagte…«
»Unbedingt, Apollon. Gib mir einfach später mal ihre Nummer.«, unterbrach er höflich lächelnd den Redefluss und versuchte erneut, sein Gesuch anzubringen. »Wolltet ihr nicht Hermes mitbringen?«
»Richtig, Hermes.« Apollon wirkte plötzlich bedrückt und sog Luft durch die Zähne ein. »Hässliche Geschichte. Ich glaube kaum, dass er es heute schaffen wird. Der sitzt in der Klapse.«
»Was soll das denn heißen?«, entfuhr es Jesus, während er sich nervös am Kinn kratzte.
»Naja, du weißt doch sicherlich noch, dass Hermes beim letzten Mal eine Idee zu einem Onlinekaufhaus mit eigenem Lieferservice hatte?«
»Er erwähnte sowas, ja.«, bestätigte Jesus mit bedeutend langsamen Kopfnicken.
»Ein Typ Namens Jeff Besos hat ihm die Idee geklaut und ist damit groß rausgekommen. Hermes hat es danach zwar mit einem eigenen Lieferservice unter seinem Namen versucht, aber der Druck und die ständigen Debatten über schlechte Arbeitsbedingungen der Lieferanten haben ihm den Rest gegeben.«
Jesus bedankte sich und ließ sich schwer seufzend erneut hinter seinem Schreibtisch nieder. Sein Magengeschwür setzte an, sich wieder schmerzhaft zu melden und allmählich hatte er genug von miesen Nachrichten. Der Abend hatte nicht einmal begonnen und steuerte bereits auf ein Desaster zu. Als sich die Tür erneut öffnete, wurde es nicht besser.
Zeus Blick wanderte ständig zwischen alt Bekanntem und verlockendem Neuen hin und her. Sein Teller war zwar längst reich beladen, aber dennoch fiel es ihm schwer, sich zu entscheiden. Er war im Begriff, nach den eingelegten Weinblättern zu greifen, als ihn ein allzu vertrauter Klang innehalten ließ.
»Weinblätter? Wirklich? Noch mehr Klischee geht ja wohl nicht.«
»Schön, deine liebliche Stimme zu hören Schatz.«, antwortete er mit geschlossenen Augen nach einen kurzen Augenblick und entschied sich dann doch für die Quesadillas. Er wandte sich Hera zu und legte sich eine Reihe von bissigen Sprüchen zurecht. Nur als er sie sah, setzte sein Verstand einen Moment aus. Er setzte an, etwas zu sagen, schaffte es aber anhand ihrer Erscheinung nur, schwer zu schlucken. Sie grinste triumphierend und strich sich mit einer Hand eine Strähne ihrer dunkelblonden Haare hinter das rechte Ohr.
»Der große Zeus. Nicht zu glauben, wie leicht der Göttervater und einstige Herr des Olymps aus der Fassung zu bringen ist.«, platzierte sie ihre Spitze, stemmte sich eine Faust in die Hüfte und lenkte seinen Blick dabei über den tiefen Ausschnitt ihres bauchfreien Tops hinab zu ihren gestählten Bauchmuskeln. Zeus straffte sich und gewann darüber seine Selbstsicherheit wieder zurück.
»Bilde dir nichts darauf ein. Wenn ich nur daran denke, wie vielen Personaltrainern und Stylisten dein neuer Look den Verstand gekostet haben muss, hat meine Bewunderung schon wieder dem altbekannten Mitleid für dein Umfeld Platz gemacht.«
In einer grazilen Bewegung verlagerte sie ihr Gewicht auf das andere Bein und entlockte dadurch ihren Pumps das typisch hallende Klacken, das jeden Mann dazu brachte, sich nach ihr umzudrehen.
»Ich bin wenigstens dazu bereit, mich über einen längeren Zeitraum mit jemanden auseinanderzusetzen, damit mich derjenige kennen lernt, mir helfen kann, mich zu verändern und an mein Ziel zu gelangen. Ganz im Gegensatz zu dir, der nicht einmal lange genug mit seinen Bekanntschaften das Bett teilt, um sich deren Namen merken zu können.«
»Was war das jetzt? Schritt fünf auf deinem Therapieplan? Konfrontation mit der Wurzel all jenes Übels, das dich plagt? Ich hab mich mit meiner Aufzählung deiner Opfer vertan. Bei deiner verbitterten Art habe ich all die vielen Seelenklempner vergessen, die du mit deiner intriganten Ader und deinen Wahnvorstellungen in die Klapse gebracht hast.«
»Woher auf einmal dieser Kampfgeist?«
»Ach.«, winkte er achselzuckend ab »Eine Ehe mit dir ist wie mit frischen Steaks bestückt und ohne Käfig in einem Haifischbecken zu schwimmen. Wenn man zuvor nicht draufgeht, entwickelt man den Kampfgeist automatisch.«
»Das ist reizend von dir, Liebling. Für einen Moment dachte ich ja, dass du mir nicht die Stirn bieten könntest. Schön, dass du wieder auf der Höhe bist. Sonst würde der Abend ja gar keinen Spaß machen.« Sie setzte ein entwaffnendes Lächeln auf und kraulte ihm unter dem Kinn durch den Bart. Dann wandte sie sich dem Büffet zu und schlenderte mit verführerischem Hüftschwung den ausladenden Tisch entlang. Zeus musste im Stillen zugeben, dass die Kombination ihrer hohen Absätze und die Leinenhosen mit dem leichten Schlag ihre Figur perfekt in Szene setzten und ihn einen Moment lang in Erinnerungen schwelgen ließen.
»Jesus hat sich diesmal selbst übertroffen.«, riss sie ihn wieder aus den Gedanken. »Fällt einem echt schwer, sich zu entscheiden.«
»Wie wäre es mit einem Granatapfel?«, deutete er beiläufig auf eine Frucht an der Spitze einer Obstpyramide und erntete sogleich einen strafenden Blick mit hochgezogener Augenbraue. »Diesmal könntest du ihn sogar für dich haben, ohne dass gleich Troja fallen muss.« Jetzt war es Zeus, der grinste und biss endlich von seinem Quesadilla ab. Er nickte anerkennend und betrachtete langsam kauend das übrige Stück.
»Ich sehe gar keinen Fisch.«, merkte sie an, ohne weiter auf Zeus Anspielung einzugehen. »Scheint als hätte Jesus dazu gelernt.«
»Ich bitte dich. Woher hätte er denn schon wissen sollen, dass Aphrodite allergisch auf Fisch reagiert.«
»Gleich ob Absicht oder nicht, du musst doch zugeben, dass das wenigstens etwas Schwung in den Abend gebracht hat. Die Stimmung war ja auf dem absoluten Tiefpunkt. So ein Notarzteinsatz ist doch mal etwas anderes. Oder hättest du etwa lieber weiterhin Hades Gejammer über seinen geliebten Kraken ertragen?«
»Warum so böse, Teuerste?«, deutete er mit dem Quesadilla in der Hand auf sie, bevor er erneut abbiss.
»Ich bevorzuge eher die Begriffe ehrlich, oder direkt. Wo ist sie eigentlich?«
»Aphrodite? Keine Ahnung. Aber bei der Stimmung wäre es besser, wenn sie heute nicht kommt.«
»Oh, ich bin mir sicher, sie wird kommen und das sicherlich mehrmals. Nur nicht in unserer Gegenwart sondern eher in der einer Fußballmannschaft, Kasernenbesatzung oder was sich sonst auf die Schnelle finden lässt.«
»Du bist voll in deinem Element und versinnbildlichst, um wieviel schärfer das Wort als das Schwert sein kann.«
»Du erinnerst dich an meine Worte? Ehrlich? Direkt? Sie ist wahrscheinlich jene von uns, die neben Ares am dringendsten etwas wie eine Therapie nötig hat. Sexsucht kann schon etwas Schlimmes sein, vor allem wenn man damit versucht, ein eigenes Netzwerk aus Intrigen und Abhängigkeit zu errichten. Das wäre dann wie ein Wirt, der selbst sein bester Kunde ist.« gab sie den letzten Satz mit einem Achselzucken von sich und entschied sich für ein Croissant.
»Ich denke, du solltest dich allmählich beeilen.«, mahnte Zeus mit herablassendem Unterton.
»Sind wir nicht schon lange über diesen Punkt hinaus, an dem du mir sagen kannst, was ich tun oder lassen soll?«
»Ich mein ja nur. Sieh mal dort.« Er deutete zu Athene und Hestia, die gemeinsam eintraten und wischte seine Finger an einer Serviette ab. »Es wird sicher nicht mehr lange dauern, bis Jesus den Ring frei gibt.«
»Was ist mit Poseidon?«
»Der hat zu viel um die Ohren und laut seiner letzten Nachricht keinen Bock auf das hier.«
»Ihn hat wohl ein plötzlicher Anflug von Weisheit ereilt.«, kommentierte Hera, ohne Zeus anzusehen.
»Ach sei es drum.«, seufzte Zeus und stellte seinen Teller ab. »Werfen wir uns in die Schlacht.«

»Ich begrüße alle zusammen zu unserer Familientherapiesitzung.«, eröffnete Jesus feierlich, mit ausgebreiteten Armen und sah den Versammelten einem nach dem anderen lächelnd ins Gesicht. »Das letzte Mal ist zwar schon etwas länger her, aber dank der Hilfe von Hestia haben fast alle trotz der Widrigkeiten wieder hierher gefunden.«
Der Beifall hielt sich in Grenzen, dafür waren die strafenden Blicke Richtung Hestia umso deutlicher. Jesus ließ sich nicht beirren und fuhr fort.
»Wie ihr wisst, sind diese Sitzungen nur eine Art Controlling und sollen euch die Möglichkeit geben, um uns allen Versammelten eure Fortschritte mitteilen zu können, die ihr außerhalb dieses Raumes gemacht habt. Gibt es jemanden, der uns als erster über sich erzählen möchte?«
Jesus machte eine Pause und ging erneut heran, jeden einzelnen der Reihe nach direkt anzusehen. Als er bei einer blonden Frau in einem modischen Hosenanzug ankam, räusperte sich diese und erhob sich unter seinem aufmunternden Lächeln und dem spärlichen Applaus der Versammelten. Nachdem es wieder still im Raum wurde, atmete sie noch einmal tief durch und setzte an.
»Hallo zusammen.«
»Hallo Athene.«, erklang es im geleierten und gelangweilten Chor.
»Ich möchte heute über etwas reden, das mich schon lange bedrückt.«
Sie ließ ihren Worten eine kurze Pause folgen, bevor sie endlich weiter sprach.
»Wie ihr wisst bin ich unter anderem Patronin der Wissenschaft und Strategie. Wir alle sehnen uns nach den Gebeten, die uns unserer einstigen Macht wieder näher bringen. Jene Gebete, die ich erhörte, waren von einem Mann namens J. Robert Oppenheimer. Ich war so durstig nach dem, was er mich kosten ließ, dass ich alles um mich ausblendete und so half ich ihm, seine Fortschritte voranzutreiben. Wie das mit Hiroshima und Nagasaka ausgegangen ist, wissen wir leider alle. Ein einzelnes Wort aus unserem Mund hatte einst dieselbe Wirkung und brachte ganze Völker dazu, sich gegenseitig zu vernichten. Aber jetzt ist nicht mehr unsere Zeit. Mittlerweile glauben die Menschen von sich, selbst Götter zu sein. Wir haben hier nichts mehr verloren und jedes unbedachte Wort hat viel weitreichendere Folgen, als wir auch nur erahnen können. Ich bedauere mein Wirken zutiefst, aber die Zeit lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Mein Appel ist, endgültig von den Menschen abzulassen, bevor wir in einem schwachen Moment erneut auf sie hereinfallen.«
»Danke Athene, dass du das mit uns geteilt hast.«, ergriff nun Jesus wieder das Wort, der die unbehagliche Stille lange genug hatte wirken lassen.
»Will sich noch jemand einbringen?«
»Verdammt, ich bin zu früh.«, donnerte plötzlich eine Stimme los und ließ alle Anwesenden herumfahren. »Wenn ich gewusst hätte, dass ihr mit eurer Selbstbefleckung noch nicht durch seid, hätte ich mit meinen Jungs noch ein paar Runden gedreht.«
»Poseidon.«, begrüßte Jesus den Nachzügler, ohne seinen Missmut über dessen Auftreten verbergen zu wollen. »Ich freue mich, dich doch noch zu sehen, aber versuch doch bitte…«
»Ja, ja, ich weiß Bescheid.«, unterbrach ihn der Hühne im Bikeroutfit. »Mach dir keinen Stress, Mann. Ich wollte nur mal vorbeischauen und sehen, wen du diesmal vergiftest.«
Jesus strafte den Rüpel mit einem durchdringenden Blick, erntete aber lediglich ein immer breiter werdendes Grinsen. Der einstige Herr der Meere ließ sich gemächlich auf einem freien Stuhl nieder.
»Du weißt ja, Poseidon.«, holte Jesus zum Konter aus. »Jeder, der zu spät kommt, muss als nächstes von sich erzählen.«
»Das kannst du sowas von vergessen.«, lachte Poseidon lauthals los und verschränkte seine lückenlos tätowierten Arme vor der Brust.
»Wenn es dir recht ist, fange ich für dich einfach mal an.«, deutete Jesus auf sich und setzte sich mit überkreuzten Beinen. »Wie wäre es, wenn du mir von den Sons of Trident erzählst?«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen.«
»Noch ist es nicht zu spät, wieder auf den Pfad der Rechtschaffenheit zurück zu kehren.«, ließ er nicht locker und sah ihn felsenfest an. »Man erntet was man säht, Poseidon. Heute wäre genau der richtige Moment, dem Alten abzuschwören und sich dem Neuen zuzuwenden. Viele Dinge sind mir zu Ohren gekommen und allesamt stimmen mich nachdenklich, Poseidon.«
»Warum sollte ich etwas ändern? Die Geschäfte laufen gut, da kann ich mich wirklich nicht beklagen.«
»Geschäfte?!« entfuhr es Hestia. »Deiner Bikergang wird organisierte Kriminalität, Waffen und Drogenhandel nachgesagt. Bestechung sollst du auch betreiben und sogar vor Auftragsmord schreckst du nicht zurück. Du mutierst ja fast schon zu einem zweiten Escobar.«
Jesus sah die dicke Halsschlagader unter dem Dreizacktatoo hervortreten als Poseidon um Fassung rang. Doch von einem Moment auf den anderen erschien wieder das selbstgefällige Grinsen, als wären die letzten Worte nie gefallen.
»So dramatisch ist das gar nicht, Schwesterchen.«, spielte er die Anschuldigungen herab und strich sich die eine herabgefallene Strähne seiner ungebändigten Mähne zurück. »In Wirklichkeit bin ich lediglich mit ein paar Jungs unterwegs und ergreife die Gelegenheiten, wenn…«
Ein Klopfen unterbrach Poseidon und ließ Jesus nun selbst genervt stöhnen. Erneut wandten sich alle Anwesenden der Tür zu, durch die zwei Gestalten ihre Köpfe steckten.
»Äh, sind wir hier richtig?«, erkundigte sich der mehrarmige Shiva.
»Warum könnt ihr nicht einmal eure Mails richtig lesen?«, entfuhr es Zeus genervt.
»G-g-g-g-g-g-enau, ihr s-s-s-s-seid e-e-e-e-e-erst Mo-mo-mo-morgen dra-a-a-a-an.«, sprang Ares mit hochroten Kopf auf und versuchte, sich so einschüchternd wie möglich zu geben. Allerdings erreichte er damit nur, dass fast alle Versammelten in Gelächter ausbrachen.
»Was er meint ist, dass ihr euch verpissen sollt.«, grollte Poseidon, der sich nicht einmal die Mühe machte, sich umzudrehen und lediglich mit seinem Daumen über die Schulter zur Tür deutete.
»Komm lass uns gehen.«, forderte Ganesha Shiva auf. »Das haben wir nicht nötig.«
»Und du pflanzt dich auch wieder hin und ni-ni-nimmst einen Keks, bevor Kim Joung-un wirklich noch den roten Knopf drückt.«, äffte Poseidon Ares nach, der sich wie ein geohrfeigter Schuljunge peinlich berührt setzte.
Jesus massierte resignierend seine Schläfen, zwischen denen sich allmählich ein stechender Schmerz entwickelte. Mit mäßigem Erfolg versuchte er, den aufkommenden Geräuschpegel aus Gelächter und Gerede mit kontrollierten Atemübungen auszublenden. Nach einem tiefen Seufzer schob er seine Brille nochmals zurecht und sah hilfesuchend zu Hestia, die soeben etwas mit Hades austauschte. Die biedergekleidete Göttin klopfte diesem noch einmal aufmunternd auf die Schulter, bevor sie sich mit gefalteten Händen wieder zurücklehnte. Einen kurzen Moment später hob der Gott der Unterwelt mit immer noch gesenkten Kopf die Hand. Als sich die Anwesenden der Situation bewusst wurden, ebbte der Geräuschpegel nach und nach ab. Als keiner mehr etwas sagte, erhob sich Hades langsam.
»Ich würde gerne etwas zum heutigen Abend beitragen.«, flüsterte er.
»Ich freue mich Hades, was hast du auf dem Herzen?«, sprach ihm Jesus optimistisch zu.
»Ich würde gern über den Kraken sprechen.«
Es war nicht mehr als ein kleiner Satz. Dennoch löste er damit einen Sturm der Entrüstung aus. Er erntete Seufzen, genervtes Stöhnen und Flüche für seine Ankündigung, dazu flogen Hades zusammengeknüllte Servietten entgegen. Selbst Jesus hatte für einen Moment Probleme, sein Lächeln angesichts dieses Themas aufrecht zu erhalten. Dennoch stemmte er sich in die Höhe.
»Hey, ich bitte euch.«, versuchte er, die aufgebrachte Menge zu beschwichtigen. »Das ist nicht fair. Jeder von euch bekommt eine Chance, sich mitzuteilen. Aber ebenso müsst ihr dies anderen einräumen.« Er wurde zuletzt so laut, dass sogar Poseidon mit seinen Bemerkungen innehielt.
»Hades.«, wandte er sich wieder an den früheren Herrscher der Unterwelt. »Bitte erzähl uns, was dich bedrückt.«
»Ich habe nachgedacht.«, begann er nach einer gewissen Zeit. »Der Kraken war wie mein Kind, als hätte ich ihn aus meinem eigenen Fleisch geformt. Ich habe ihn geliebt, aber er wurde mir weggenommen. In den vergangenen Jahrtausenden habe ich mich dem Kummer hingegeben und meine Seele fast in meiner eigenen Trauer ertränkt. Doch seit einer gewissen Zeit hat sich etwas verändert. Wo ich zuvor blind war, konnte ich sehen. Ich verstehe jetzt, was geschehen ist und werde es hier und jetzt zur Sprache bringen. Ich klage dich an, Zeus.«, grollte er mit dem Zeigefinger auf seinen Bruder gerichtet.
»Ok, es ist amtlich.«, antwortete dieser lachend. »Du hast den Verstand verloren.«
»Es war dein Sohn Perseus, der den Kraken erschlagen hat.«
»Ist bei dir eine Sicherung durch?«, erhob sich Poseidon. »Nachdem wir die Titanen gestürzt hatten, teilten wir die Welt unter uns auf. Ja sicher, die Unterwelt ist nicht der idyllischste Ort, aber es war dein Ort. Du wolltest mehr und hast versucht, Zeus abzuziehen. Hey, scheiß drauf. Es ist schief gegangen und du hast deine Rechnung bekommen. Aber jetzt nimm es wie ein Gott und lebe gefälligst damit.« Er bohrte Hades mit grimmiger Miene den Zeigefinger in die Brust.
»Sagt jener Mann, der selbst sein erwähltes Heim hinter sich gelassen hat und einen auf Outlaw macht.«, entgegnete dieser kalt.
»In dieser Kloake namens Meer hält es doch keiner mehr aus. Schon mal gesehen, was die Menschen da alles reinkippen?«
»Mach nicht so einen Wind, Poseidon.«, mischte sich Athene ein. »Dafür hängt Hades da unten mit Typen wie Hitler und Napoleon fest und darf sich Tag um Tag deren größenwahnsinniges Geschwätz anhören.«
»Nun zu dir.«, wandte Hades sich schnaubend Athene zu. »Dein Fluch war es, der Medusa erst jene Macht verliehen hat, mein geliebtes Kind zu bezwingen.«
»Ich habe ihr einen Denkzettel verpasst, weil sie und Poseidon mit ihrer Vögelei einen meiner Tempel entweiht haben.«
»Sie hat sich mir an den Hals geworfen! Was verflucht hätte ich denn da schon tun können?« Poseidon schlug theatralisch die Hände über dem Kopf zusammen.
»Gewehrt hast du dich ja nicht.«, kommentierte sie schnippisch und beäugte Poseidon mit schiefgelegten Kopf.
»Sie hat mir ununterbrochen nachgesetzt. Sie war eine Stalkerin. Das war eine verdammte Irre.« Er tippte sich mehrere Male mit dem Zeigefinger fest an die Schläfe.
»Was heuchelst du im Übrigen hier so rum?«, richtete er sich anklagend an Athene. »Hast du nicht selbst etwas an Perseus Kompass herumgefummelt? Wer hat ihm denn den verspiegelten Schild zukommen lassen, durch den er erst in der Lage war, der Psychobitch den Kopf abzuschlagen, um nicht wie ihre restlichen Lover in Stein verwandelt zu werden?«

Der Streit war vollkommen eskaliert, selbst Jesus sah sich nicht mehr in der Lage, die Wogen zu glätten. So merkte niemand, wie Zeus mit einem weiteren Teller mit Quesadillas aus dem Raum geschlichen war und es sich auf dem Treppenabsatz vor der Tür gemütlich setzte.
»Ach komm schon.«, ließ ihn Heras Stimme kurz vor dem Abbeißen innehalten. »Diese Dinger sehen so widerlich aus. Wie kannst du es überhaupt nur in Betracht ziehen, so etwas essen zu wollen?«
»Wieso lässt sich jemand wie du ein Spektakel wie da drinnen entgehen?« deutete er mit einem Kopfnicken in Richtung Sitzungsraum.
»Ich muss zugeben, dass ich nicht gedacht hätte, dass es im Vergleich zum letzten Mal eine Steigerung geben könnte, aber bei mir ist jetzt trotzdem die Luft raus.«
»Wie schlägt sich Jesus?«
»Er hätte vielleicht Shiva hierbehalten sollen. Da würde es ihm gewiss nicht mehr so schwer fallen, Poseidon und Hades voneinander fernzuhalten, Ares zeitgleich daran zu hindern, auszuflippen und dem Rest mit Engelszungen zuzureden, sich wieder lieb zu haben.«
»Ich habe nachgedacht.«, gab er zu und stellte den Teller beiseite.
»Wenn das ein Seelenstrip wird, sollten wir vielleicht wieder reingehen.«
»Im Ernst. Hast du dir mal darüber Gedanken gemacht, warum unsere Familie so kaputt ist?«
»Wir sind Götter, Zeus. Für uns gelten keine Regeln. Weder richtig noch falsch, weder gut noch böse. Wir stehen über solchen Dingen. Wir sind frei. Aber manchmal glaube ich, dass Jesus Recht hat. Manchmal sollte man Altes einfach ruhen lassen und sich nicht weiter daran aufarbeiten.«
»Du überrascht mich jedes Mal aufs Neue. Und was soll man deiner Meinung nach tun, wenn man sich einmal vom Alten abgewandt hat? Soll man sich dann was Neuem widmen? Stimmt, ich kann es ja mal mit dem Malen versuchen.«, spottete er sarkastisch.
»Wie wäre es stattdessen mit einem Neustart. Komm, lass uns was trinken gehen.« forderte sie ihn auf, nachdem sie Zeus lange und eindringlich gemustert hatte.

Die Tür flog mit lauten Knall ins Schloss und Jesus war wieder allein. Der Tag hatte ihn viel gekostet und seine Geduld bis aufs äußerste strapaziert. Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich hinter seinen Schreibtisch nieder und beobachtete, wie sich die Kopfschmerztabletten sprudelnd in dem Wasserglas auflösten. Er nahm die Brille ab und warf sie achtlos vor sich auf den Tisch. Sein Kinn pochte noch immer von dem Schlag, den er versehentlich beim Handgemenge zwischen Hades und Poseidon kassiert hatte.
»Vielleicht sollte ich es das nächste Mal doch lieber mit den hinduistischen oder nordischen Göttern versuchen. Aber diesen Scheiß hier, mach ich nicht mehr mit.«