
Emilys Atem ging stoßweise. Zusammen mit dem Echo ihrer Schritte, die durch die Gänge hallten, kam sie sich vor wie gejagtes Wild, wie Beute. Der Herzschlag hämmerte in ihren Ohren, als sie angsterfüllt durch das düstere Gewölbe hetzte. Immer wieder warf sie einen Blick hinter sich. Die Bewegung war so flüchtig, dass sie kaum etwas erkennen konnte, gleich wie oft sie sich umdrehte. Dennoch wiederholte sie sie immerfort. Plötzlich fand sie sich in einer Sackgasse. Sie konnte es nicht fassen. Emily kannte das alte Theater in- und auswendig und trotzdem stand sie orientierungslos vor der Wand. Panik drohte, sie zu übermannen. Sie zitterte am ganzen Leib. Ihre Brust hob und senkte sich hektisch. Sie sah sich nach einem Ausweg um. Für einen Moment erwog sie es, einen Teil des Kellers wieder zurückzulaufen. Doch als sie ein Geräusch hörte, überschlugen sich ihre Gedanken. Sollte sie kämpfen, oder lieber flüchten? Sie erblickte ein paar große und halb abgedeckte Requisitenkisten, ergriff den letzten rettenden Strohhalm, der ihr blieb. Sie deckte eine der übergroßen Kisten ab und stieg zwischen die Requisiten der vorangegangenen Aufführung. Inmitten einer Handvoll verkleideter Schaufensterpuppen verkroch sie sich und spähte durch die fingerbreiten Spalten bei den Latten. Nur einen Augenblick später hörte sie näherkommende Schritte hallen. Ihr Atem beschleunigte sich abermals. Tränen rannen ihr über die Wangen. Mit zitternden Fingern hielt sie sich den Mund zu, um sich nicht selbst zu verraten. Als eine Gestalt in die Sackgasse trat, sprengte ihr Puls jede Skala. Emily war es nicht möglich, das Gesicht zu erkennen. Aber das lange Messer in der Hand sah Emily dafür umso besser. Beim Anblick der Klinge krampfte sich ihr Magen zusammen. Sie hatte ihre beste Freundin Stephanie auf der Schultoilette gefunden. Blutüberströmt. Von Amanda, ihrer anderen Freundin aus ihrem Dreiergespann, fehlte seit zwei Tagen jede Spur. Doch dies war bedeutungslos. Jetzt war sie an der Reihe, dessen ist sie sich sicher. Die Gestalt trat näher. Mit einem Ruck flog die Abdeckung der ersten Kiste zurück und als sie sah, wie sich der Unbekannte in ihre Richtung wandte, hielt sie den Atem an. Sie schloss die Augen und sandte ein Stoßgebet in den Himmel. Sie verfiel schon in eine Art Totenstarre. Sie hörte den Atemzug der Person. Langsam, tief. Dann explodierte der Fremde. Wie ein Berserker wurde auf die Puppen eingestochen. Immer und immer wieder. Der Angreifer hielt inne, griff nach seinem Opfer und betrachtete die abgeschlachtete Schaufensterpuppe. Ein Lachen entfuhr dem Schlächter, als er seinen Irrtum erkannte. Erst jetzt sah Emily im Zwielicht die Fuchsmaske. Der Täter wandte sich ab, um die Puppe beiseitezulegen, und Emily erkannte ihre Chance. Mit einem Schrei schleuderte sie die über ihr liegenden Gliederpuppen gegen den Maskierten und brachte diesen zu Fall. Emily flüchtete. Sie lief um ihr Leben und eilte die Treppe hinauf.
Sie erreichte das Ende und stieß die Tür. Schützend hob sie sich eine Hand vor die zusammengekniffenen Augen, als sie von flackerndem Licht geblendet wurde. Sie setzte ein paar Schritte in den Raum, bevor sie sich wieder an die Helligkeit gewöhnte, und betrachtete dass ihr dargebotenen Spektakel. Sie stand auf der großen Bühne des Theaters. Umgeben von hunderten leerer Sitze und verlassener Logen. Die Leinwand war hell erleuchtet und zeigte Bilder. Rückwärts stolperte sie zum Rand der Spielfläche, um genauer zu sehen, was die Projektionswand abbildete.
„Warum macht ihr das?“, erklang die schluchzende Stimme aus den Lautsprechern. Der Projektor zeigte drei Mädchen, die vor einem anderen standen und das sie immer wieder bespuckten oder mit den Füßen traten.
„Weil du eine dumme Fotze bist.“, antwortete Amanda höhnisch lachend.
„Nein.“, entgegnete ihr Stephanie. „Du bist weniger als das, du bist wie Hundescheiße an meiner Sohle.“, sprach sie mit angewidertem Gesicht weiter und streifte sich zur Untermalung ihrer Worte die Schuhsohlen an der Jacke des kauernden Mädchens ab.
„Scheißemarie.“, lachte Amanda, bevor Stephanie mit einfiel. Emily war nicht zu sehen. Sie hielt die Kamera.
Die Szene wechselte und zeigte wieder Marie, die diesmal über einem Buch gebeugt, auf einer Pausenbank, im Schulhof saß. Ihre braunen Haare hatte sie mit einem rosafarbenen Haarband zusammengebunden. Sie war derart in ihre Lektüre vertieft, dass sie nicht bemerkte, wie dieses Mal Emily angeschlichen kam. Teuflisch grinsend, positionierte sie sich mit einem Becher hinter dem lesenden Mädchen und nahm vorsichtig den Deckel ab. Nur einen Moment später kippte sie, mit schallendem Gelächter, den Inhalt über Marie aus. Diese fuhr blitzartig in die Höhe und wollte eben aufbegehren, als sich Amanda einmischte.
„Was stinkt hier denn so?“, sprach sie mit zugehaltener Nase und wedelte durch die Luft. Marie roch an sich selbst und nur einen Augenblick später bildeten sich Tränen in ihren Augen. Jetzt stieg Emily mit ein und lenkte die Aufmerksamkeit fast aller Anwesenden auf dem Hof auf sich.
„Sag mal, Marie, hast du dich selbst angepisst? Wie krank bist du eigentlich.“, kam es von Stephanie und brachte die letzten Dämme Maries zum Brechen. Sie zoomte einmal das beklommene Gesicht des Mädchens heran, bevor erneut das Bild wechselte. Eine Szene nach der anderen wurde abgespielt und hielt Emilys Blick auf die Leinwand gebannt. Immer war es Marie, die im Mittelpunkt stand. Mal geschlagen, mit Zigarettenstummeln malträtiert oder ihre Schulsachen aus dem Fenster in den Hof geworfen. Die Videos schienen endlos. Emily, die sich eine einzelne Träne aus dem Augenwinkel wischte.
„Im Ernst?“, riss sie eine Stimme wieder ins hier und jetzt. „Du heulst? Wie heuchlerisch bist du eigentlich?“. Es war der Angreifer mit der Fuchsmaske. Er stand nur wenige Meter von ihr entfernt. Mit dem Messer in ihrer Hand.
„Bist du es, Marie?“, erkundigte sie sich mit dünner Stimme. Einen Augenblick geschah nichts, aber zog sie sich die Maske vom Kopf und warf sie achtlos beiseite.
„Hast du Amanda umgebracht?“, wollte sie wissen und rang mit den Tränen.
„Ja.“, antwortete sie kalt. „Und Stephanie auch.“, woraufhin Emily aufschluchzte und Anstalten unternahm, zu fliehen. Aber da war Marie bei ihr und zog ihr das Messer in einem langen Schnitt über den Oberschenkel. Sofort brach sie zusammen und umklammerte ihr verletztes Bein. Die Jeans färbte sich rot. Emily begann, hysterisch zu kreischen, als sie vergeblich gegen das sich immer weiter ausbreitende Rot auf ihrer Hose anzukämpfen versuchte. Eine schallende Ohrfeige brachte sie wieder zur Ruhe.
„Das sollte dich stoppen und nicht umbringen.“, spuckte sie spöttisch aus. „Wenn ich dich hätte umbringen wollen, wärst du bereits tot.“
„Du willst mich nicht umbringen?“, fragte Emily verwirrt. Marie zeigte mit dem verschmierten Messer auf Emily. Gelegentlich fing die Klinge einen Lichtstrahl auf und brachte sie in einem Kaleidoskop aus blitzenden Farben zum Leben. Erst als sie weitersprach, senkte sie es wieder.
„Zuerst wollte ich es. Genaugenommen wollte ich dich sogar zuerst töten. Doch dann kam dir Amanda zuvor. Ich wollte mich einfach an euch Rächen aber dann fand ich das hier.“, endete sie und betätigte eine Fernbedienung und deutete auf die Leinwand.
Es war Amanda. Sie saß im Bademantel vor der Webcam und kämmte sich eben die Haare. Wie gewöhnlich waren Emily und Stephanie mit eingeblendet und beschäftigten sich mit ähnlich banalen Dingen. Wie immer kamen sie ihren Lästereien nach. Im ersten Moment konnte Emily nicht verstehen, was vor sich ging, doch dann erkannte sie die Situation und ihr Magen begann, sich zu verkrampfen. Das Gespräch handelte wie oft von Theatergruppe. Das Gymnasium war im ganzen Land berühmt für ihre Vorstellungen und die extravaganten Neuinterpretationen klassischer Stücke.
„Hast du eigentlich mitbekommen, was da heut nach der Probe abgelaufen ist?“, setzte Amanda ein.
„Was soll schon sein?“, entgegnete Emily, während sie sich die Zehennägel lackierte.
„Herr Sperr hatte eine Neue zum Vorsprechen da.“
„Und? Der schleppt doch ständig Neue an.“, winkte Emily gleichgültig ab.
„Sie hat für deine Rolle vorgesprochen.“
Emily horchte auf und rückte näher zum Bildschirm, bevor Amanda fortfuhr.
„Sie war echt gut. Auch Herr Sperr war von ihr begeistert. Danach hat er den Besetzungsplan abgehängt.“
„Und das sagst du mir echt erst jetzt? Sag mal willst du mich verarschen, Amanda?“, fuhr Emily wütend ihre Freundin an.
„Ich bin mir nicht sicher, aber es klang schon so, als hätte er eine Entscheidung getroffen.“
„Ich kann es echt nicht glauben. Wer ist die Bitch?“
„Keine Ahnung, ich glaube sie hieß Marie oder so.“
„Wie auch immer, die mach ich fertig. An der werde ich ein Exempel statuieren. Die werde ich so hart rannehmen, dass sie sich wünschen wird nie wieder geboren worden zu sein. Sie wird zu einem abschreckenden Kunstwerk werden.“
Dann fror der Bildschirm ein.
„Ein Kunstwerk, hast du gesagt.“, begann Marie wieder zu sprechen und band Emilys Aufmerksamkeit an sich.
„Woher hast du das?“, wollte Emily kleinlaut wissen.
„Es ist erstaunlich, was ein Telefon so alles zu Tage fördert. Amanda hat alles in einer Cloud gespeichert. Das Passwort war noch auf dem Handy hinterlegt. Jedes eurer Chats. Jedes Bild und jedes einzelne Video war darauf zu sehen. Es stimmt, es ist wahrlich ein Kunstwerk.“, endete sie mit glasigem Blick.
„Es tut mir Leid, Marie. Ich wollte, ich wollte doch nur…“
„Ich weiß.“, wurde sie von Marie unterbrochen. „Dein Kunstwerk.“
Sie betätigte erneut die Fernbedienung und sofort begannen wieder die Videos aus der Cloud über die Leinwand zu hüpfen. Zeitgleich setzte Musik ein. Die Ode an die Freude von Beethoven hallte durch den Saal.
„Was hast Du vor?“
„Du sitzt in der ersten Reihe deines eigenen Stückes. Bleib doch und genieße es.“, lächelte sie freundlich und begann, sich nackt auszuziehen. Emily erschrak, als sie all die Brandnarben sah, die sie Marie zugefügt hatten. Die vielen Prellungen unterstrichen ihr Martyrium nur zusätzlich. Schließlich stellte sie sich genau an den Rand der Bühne und verbeugte sich vor den leeren Stühlen, bevor sie sich wieder an Emily wandte.
„Bereit fürs Finale, Emily?“
Sie fischte das Messer vom Boden und beugte sich zu ihr herab. Emily wimmerte und kroch vorwärts. Doch diese setzte sich über sie hinweg und drehte sie wieder auf den Rücken. Emily schlug wild panisch um sich. Sie kämpfte mit dem Mut der Verzweiflung und als Marie direkt in die Oberschenkelwunde Emilys griff brach ihr Widerstand sofort in sich zusammen. Sie rechnete damit, jeden Moment den kalten Stahl in ihren Körper fahren zu spüren. Marie setzte sich auf sie und sah ihr tief in die Augen.
„Ich habe bereits die Polizei verständigt. Wir bekommen schon bald Besuch. Dann haben wir wenigstens noch ein kleines bisschen Publikum für unsere Aufführung. Sie werden dann dein Kunstwerk sehen. Und zu guter Letzt werden sie dich mitnehmen.“
„Wieso mich?“
„Du Dummerchen.“, lachte sie los. „Was sollten sie denn mit mir tun? Für mich fällt gleich der letzte Vorhang. Ich habe nichts mehr. Dank euch meidet mich jeder. Nein, für mich endet die Vorstellung endgültig. Aber du, du wirst dich für den Rest deines Lebens an dein Kunstwerk erinnern und dich daran erfreuen können.“
Marie zog sie sich das Messer quer über die Kehle und ließ sich nach hinten herunterkippen. Emilys Verstand zog sich ins Schneckenhaus zurück. Die eingetroffene Polizei und Rettungskräfte, die sie untersuchten und abführten, nahm sie gar nicht wahr.