
Jemand, dem der Bazar fremd ist, wäre in dem Gewimmel aus zahllosen und dicht aufeinander gedrängten Leibern ebenso verloren wie eine Schildkröte auf ihrem Rücken. Aber für Hedan hingegen war es wie das Wasser für einen Fisch. Der Straßenjunge verschmolz mit der Masse aus Menschen. Die Eindrücke, die über ihn hereinbrachen, beflügelten. Gerüche schwerer Parfums und exotischer Gewürze übertünchten die strengen Ausdünstungen von Personen und Tieren. Marktschreier boten lautstark ihre Waren feil oder stritten sich erbittert mit der Konkurrenz. Sklavenhalter präsentierten ihre Leibeigenen als Arbeiter für Mienen, Palastdiener oder Neuzugänge für Bordelle oder Harem. Er zwängte sich an den Menschen vorbei, während seine Finger an einem Obststand geschickt ein paar Feigen mitgehen ließen. Er schlenderte an Stoffhändlern vorüber, deren edle Bahnen sich in Pyramiden stapelten. Zusammen mit Töpfern, Waffenschmieden und allen anderen samt ihrer Werke war der Bazar ein gewaltiger Schmelztiegel aus Hitze, Düften, Lärm und Hektik.
Als die letzten Früchte in seinen Mund wanderten, stahl er an einer mobilen Küche einen Spieß mit gegrilltem Lammfleisch, bevor er endlich in sein Tagwerk einstieg. Seine bevorzugten Ziele waren nicht die Händler, die selbst kaum etwas hatten und auf dem Markt verkauften, um sich Essen leisten zu können. Wenn, dann erleichterte sie Hedan mal um einen Apfel oder ein anderes Stück leckeren Obstes. Nein, sein Vorhaben traf Adelige oder aufstrebende Händler. Jene, die mehrere Stände an verschiedenen Stellen des Bazars unterhielten und viele Angestellte hatten. Diese Leute besaßen genug und die einen oder anderen Silberlinge oder Goldmünzen würden ihnen nicht wehtun. Zwar hatten sie zumeist Leibwächter an ihrer Seite, die aber in dem Gedränge sich meist nur gegenseitig behinderten. Schnell hatte er einen schwer beleibten Mann in teurem Zwirn ausfindig gemacht. Er war schwerfällig in seinen Bewegungen und schien die Menschen kaum zu registrieren, die ihn immer wieder anrempelten. Aber er hatte zwei Leibwächter bei sich. Sie waren beide breitschultrige Krieger mit grimmigen Mienen und Schwertern an ihren Waffengurten. Jeder, der es riskieren würde, mit ihnen in einen offenen Kampf zu gehen würde mit großer Sicherheit einen schlechten Tag erleben. Allerdings wirkten sie hier ebenso fehl am Platz wie ein Eisbär in der Wüste. Zu mehr, als gefährlich auszusehen, waren sie im Moment nicht fähig. Ihre Schwerter waren zu ausladend, um sie in dem Gedränge sinnvoll einsetzen zu können. Auch schätzte er sie als zu langsam ein um, ihm im Ernstfall hinterhereilen zu können. Also nahm Hedan all seinen Mut zusammen und schritt zur Tat. Er zog einen Bogen und umging geschickt den ersten der beiden Wachen. Er war nur noch eine Armlänge von dem fetten Kerl entfernt. In einer raschen Bewegung schnitt er mit seinem Messer den Beutel des Mannes ab und wandte sich zur Flucht, als er direkt in das Gesicht des zweiten Leibwächters sah. Hedan hechtete nur einen Herzschlag später zwischen den Beinen eines ahnungslosen Mannes hindurch und rollte sich unter dem Verkaufsstand lang. Doch kaum war er wieder auf den Füßen, wurde der Tisch hinter ihm schon auf die Seite geschleudert. Granatäpfel und Bananen flogen hoch, während beide Hünen wutentbrannt hinter ihm her rasten wie eine durchgehende Rinderherde. Klingen sausten durch die Luft, wo er eben gestanden hatte. Er schlug Haken und vollführte Hechtrollen, übersprang ganze Stände, doch gegen seine Erwartungen hielten seine Verfolger mit und setzten stattdessen alles daran, das Eigentum ihres Herren und obendrein Hedans Kopf als Geschenk zu überbringen. Sein Blut rauschte in seinen Ohren und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Die Muskeln brannten vom anhaltenden Sprint und seine Kleider waren nass und klebten an ihm, als stiege er soeben aus einem Zuber. Immer tiefer drang er in das Gewirr aus Hinterhöfen und Sackgassen, bis er vor einer hohen Wand stand. Keuchend drehte er sich um und sah in die Richtung, aus der er gekommen war. Schon hörte er das Hallen schwerer Schritte. Einen Ausweg gab es nicht und ebenso wenig wäre ein Kampf von Erfolg gekrönt. Trotzig wischte er sich eine einzelne Träne der Verzweiflung aus dem Augenwinkel, als er plötzlich an der Schulter ergriffen wurde. Erschrocken fuhr er herum und sah einem alten Mann mit Turban und dichtem grauen Bart ins Gesicht.
„Keine Angst, Junge.“
Im nächsten Augenblick erschienen die Leibwächter in der Gasse. Der Straßenjunge wich zurück, wurde aber vom erstaunlich festen Griff des alten Mannes zurückgehalten.
„Sieh hin.“, sprach der Alte erneut und deutete mit einem Kopfnicken zu seinen Verfolgern.
Als er dem Fremden Folge leistete, konnte er seinen Augen kaum glauben. Die Wächter sahen einfach an ihnen vorbei und nach einem kurzen Wortwechsel verschwanden sie wieder.
„Wie, wie habt ihr das gemacht?“, stotterte er mit einem hysterischen Anflug in der Stimme. Erntete aber kaum mehr als ein Achselzucken, während der Mann sich auf einer Decke niederließ.
„Seid ihr sowas wie ein Magier?“
„Nicht ganz.“, antwortete er abwinkend und fischte sich einen vergammelten Apfel aus einem Bündel neben seinem Lager. Er strich einmal kurz darüber und nur einen Wimpernschlag später sah die Frucht wieder aus, als hätte man sie eben vom Baum gepflückt. Mit einem sanften Lächeln warf er ihn Hedan zu.
„Iss, du bist sicher hungrig.“
„Wer seid ihr?“, flüsterte er ehrfürchtig.
„Sagen wir, ich war zur rechten Zeit am rechten Ort, der Rest ist doch Einerlei.“
„Was habt ihr da eben mit den Zweien gemacht?“
„Das war doch nur eine notwendige Kleinigkeit.“
„Kleinigkeit?“, echote Hedan. „Angesichts meiner Situation grenzte das aber schon eher einem Wunder.“
„Was weißt du schon, Junge.“
„Was meint ihr?“, fragte Hedan irritiert und betrachtete wieder den Apfel in seiner Hand.
„Wunder, Zauberer.“, begann der alte mürrisch kopfschüttelnd. „Ihr erkennt stets nur das, was euch am offensichtlichsten ist. Du kannst dir nicht einmal im Entferntesten vorstellen, was wahre Wunder sind, Junge.“
„Ihr seid sogar so unwirsch, wie man sich von Magiern erzählt.“, lachte Hedan los und steckte damit nur einen Moment später auch den alten Mann an.
„Setz dich Junge.“, bot dieser ihm versöhnlich einen Platz auf seiner Decke an.
„Was weißt du über Wunder?“, begann der Alte wieder, nachdem Hedan das Angebot angenommen hatte.
„Ich weiß nicht. Vielleicht etwas, wie über das Wasser zu wandeln?“
„Wirklich?“, prustete der Alte kopfschüttelnd los und gab ihm einen leichten Klaps auf den Kopf.
„Was kommt als nächstes? Blei in Gold verwandeln?“, für einen Augenblick sah sich der Mann um, als suchte er etwas. Sein Blick blieb an dem Mond hängen, den man in seltenen Momenten wie an dem jetzigen trotz des hellen Tages sehen konnte. „Sieh hin, Junge. Sieh genau hin. Die wahren Wunder sind jene, die man gar nicht wahrnimmt.“
Hedan bemerkte sofort den traurigen Unterton in der Stimme des Mannes. Zuerst war er dem Alten nur dankbar. Aber nun hatte er etwas an sich, das Hedan geradezu an seine Lippen hängen ließ.
„Was weißt du über Götter, Junge? Und damit meine ich nicht jene, die ihr heute anbetet. Erzähl mir doch von den Göttern der alten Welt.“
„Ein bisschen weiß ich, aber wirklich nicht viel.“, gab er achselzuckend zu und betrachtete erneut den Apfel. „Ich glaube, dass der Älteste von ihnen Enragir war. Der dreiäugige Gott und Vater aller Götter.“
„Sehr gut, Junge. Seinem dritten Auge blieb kein Geheimnis verborgen und konnte selbst die tiefste Finsternis des damals herrschenden Nichts durchdringen. Er formte die Dunkelheit, bis sie zu unserer Welt wurde. Aber er war allein und deshalb erschuf er aus seinem Fleisch und Blut seine Söhne Uron und Etelion.“
„War nicht Uron der Gott des Himmels und Etelion der Erde?“
„Du überrascht mich. Was weißt du über den Verrat Etelions?“
„Soweit ich mich erinnern kann formten doch Uron und Etelion die Welt im Auftrag ihres Vaters weiter. Aber bat Uron nicht seinen Vater um Hilfe, da er sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlte?“
„So war es.“, nickte er bedeutend schwer während Hedan endlich vom Apfel abbiss. „Uron erhielt die Erlaubnis, sich wie einst Enragir selbst, einen Abkömmling zu erschaffen. So erblickte Yisida das Licht der Welt und wurde von da an die Herrin des Wassers und der Fruchtbarkeit. Etelion aber schäumte vor Wut. Er war stolz. Zu stolz sogar, um bei seinem Vater angekrochen kommen, ihn zu fragen, ihn anzubetteln. Er benötigte keine Hilfe, um den Willen des dreiäugigen Gottes auszuführen. Dennoch erzürnte ihn dieses Privileg. Also beschloss er, sein eigenes Abbild zu erschaffen. Tief in den Wurzeln der Welt, an einem Ort an dem er glaubte, vor den Blicken seines Vaters verborgen zu sein. Dort erschuf er seinen Sohn…“
„Rasnil.“, fiel ihm Hedan mit vollem Mund ins Wort und warf die abgenagten Überreste achtlos beiseite. „Den Herrn der Unterwelt.“
„Das war er aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht und das, das sollte er auch nicht lange bleiben.“, verbesserte er Hedan in eindringlichem Ton, während er ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust tippte. „Rasnil war, anders als Etelion, Uron oder Yisida, frei von Aufgaben. Er war frei und doch gefangen. Eingesperrt unterhalb der Welt. Gelangweilt, ohne eine Aufgabe, zur Untätigkeit verdammt, wollte er schnell mehr. Er begann, die Welt unter der Welt zu formen. Nach seinem Willen zu gestalten. Ohne es zu wissen war Rasnil allerdings bei Weitem nicht so allein wie er zunächst dachte. Die Welt, die er erschuf war voller Prunksäle, himmelhoher Säulen und glitzernder Seen. Und genau aus dieser Seen wurde er beobachtet, von Yisida, der Tochter Urons und Göttin des Wassers. Als sie sich ihm zeigte war er von ihrer Schönheit verzaubert. Er öffnete ihr sein Herz und schließlich verliebte sie sich auch in ihn. Allerdings blieb dies ebenfalls nicht ungesehen. Enragir, der dreiäugige Gott hatte Rasnil entdeckt, als er und Yisida zueinanderfanden. Und was er sah erzürnte ihn zutiefst. Der Gott der Erde wurde daraufhin von der Oberfläche verbannt und sollte von da an sein Dasein in der Unterwelt fristen. Jener Welt, in die er einst seinen Sohn eingesperrt hatte. Aber auch Rasnil und Yisida sollten sein Zorn zu spüren bekommen. Die Beiden sollten sich niemals wieder zu Gesicht bekommen. Und so verbannte er sie ebenfalls vom Antlitz jener Welt. Sie sollten von da an nie wieder zur selben Zeit am gleichen Ort verweilen. Yisida sollte nur noch am Tage wandeln und Rasnil niemals wieder jenes erblicken. Das war das Urteil, das der große dreiäugige Gott und Herrscher über alle Götter sprach. Was ist wohl endgültiger als das Urteil des obersten Gottes?“, endete der alte Mann schwer seufzend.
„Aber, aber wo ist jetzt das Wunder?“, bohrte Hedan überrascht nach. „Was ist aus ihnen, allen geworden?“
„Aus wem?“
„Na, aus den Göttern?“
„Naja, als die Menschen aufhörten, an sie zu glauben, wurden sie zu dem, denen sie am ähnlichsten waren.“, antwortete er traurig und sah wieder in den Himmel, wo sich der Mond in blassem Schein abzeichnete. „Uron verschmolz mit den Himmel und wurde zu einer Windböe. Etelion wurde zu Erde und geriet in Vergessenheit. Yisida und auch Rasnil wurden zu dem, zu was sie einst Verurteilt wurden. Sie reisen immer noch hintereinander her und während Yisida Tag um Tag als Sonne die Welt erhellt, ist es Rasnil weiterhin nur nachts in der Gestalt des Mondes erlaubt, auf die Welt herab zu blicken. Und obwohl das Urteil Enragirs endgültig war, gelingt es ihnen dennoch von Zeit zu Zeit, wenigsten für eine kurze Zeit zusammen zu sein. Das Hedan, das ist das Wunder. Wenn sich Gegebenheiten ereignen, die trotz aller Gesetzte oder Urteile, nie geschehen dürften.“
„Woher kennt ihr meinen Namen?“, fragte er den Mann verblüfft. Der Alte war mittlerweile auf dem Weg die Sackgasse zu verlassen und drehte sich zu dem Jungen. Auf seiner Stirn öffnete sich ein drittes Auge, dessen Blick Hedans Kleidung und Haut zu überwinden schien und ihm direkt in die Seele fuhr. Der Mann wandte sich lächelnd von ihm ab und verließ die Gasse.